Zum Jahreswechsel gehören manche Rituale: Die große Silvester-Party, Bleigießen, Böller und Raketen um Mitternacht, das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker oder das Neujahrs-Skispringen aus Garmisch-Partenkirchen im Fernsehen. Dazu das, was sich in Familien oder Freundeskreisen an privaten Ritualen entwickelt hat. Das ist gut so, denn Rituale helfen uns, den Wechsel vom Alten ins Neue besser zu bewältigen.
Zu den Ritualen für das neue Jahr gehört für mich auch die Jahreslosung, das biblische Wort, das jeweils ausgewählt wird und uns durch das Jahr begleiten soll. Für das Jahr 2023 steht die Losung im 1. Buch Mose und heißt: „Du bist ein Gott der mich sieht.“
Gesehen werden, bemerkt werden, das tut gut. Gesehen werden, das bedeutet, Wertschätzung zu erfahren. Wer bei der Arbeit das Gefühl hat, trotz allen Einsatzes nicht gesehen zu werden, keine Anerkennung zu erhalten, hat irgendwann keine Lust mehr. Wenn Menschen in ihrer Not nicht gesehen werden, verschwinden sie ins Nichts. Wenn Opfer von Gewalt vergessen werden, erleiden sie das Unrecht zum zweiten Mal.
Dagegen sagt Gott: Du wirst nicht im Nichts verschwinden, denn ich sehe dich. Ich schaue auf dich mit einem Blick der Liebe.
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ – Welche Bedeutung mag diese Losung im Jahr 2023 bekommen? Ich finde es ja schon einmal gut, dass das keine Aufforderung ist, nicht noch ein guter Vorsatz für das neue Jahr, den ich sowieso nicht einhalte. Statt etwas tun zu müssen, bekomme ich etwas zugesagt. Zuspruch statt Anspruch. Und ich muss gar nichts dafür tun. Gott sieht mich als der, der ich bin – im Guten wie im Schlechten. Das kann ich gut gebrauchen.
„Du bist ein Gott der mich sieht.“ Mit diesen Gedanken wünsche ich Ihnen ein gutes und gesegnetes Neues Jahr.
Ihr Jens Höfel
Propst in Bad Harzburg