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11.11.2020 Kategorie: Wort

Durcheinandergewirbelt

Ein Windstoß fegt über den Platz vor der Lutherkirche und fährt in die ordentlich geschichteten Laubhaufen. Die gelben Blätter wirbeln hoch in die Luft und tanzen Richtung Innenstadt. Weit verstreut fallen sie wieder zur Erde und kommen zur Ruhe. Für eine Weile, bis zum nächsten Windstoß.

Die kahlen Äste recken sich in den kühlen Herbsthimmel. Dort hingen die Blätter bis vor kurzem, wohlgeordnet. Jedes einzelne nützlich in der Sonne, gemeinsam ein schützendes Dach bei Regen. Jetzt im Herbst ist ihre Arbeit getan. Bald wird das strahlende Gelb verblassen, wandelt sich unaufhaltsam zu unansehnlich moderigen Braun, eine klebrige Masse, bald endgültig beiseite geräumt.

Die ersten Tage des erneuten Corona-Lockdowns. Es fühlt sich an, als ob ein kalter Wind hineinfährt in den „neuen Alltag“ und die bisherigen Sicherheiten gehörig durcheinanderwirbelt. Es war absehbar, dass diese zweite Virus-Welle kommt, fast so sicher wie der Herbst auf den Sommer folgt. Es wurde bezweifelt, verdrängt, protestiert, es wurde das ganz normale Leben wieder aufgenommen, es wurde sich angestrengt und vieles richtig gemacht. Anders als der Wechsel der Jahreszeiten ist das Virus schließlich kein allgemein gültiges Gesetz. Doch jetzt Anfang November steht auch fest, dass diese Einsicht die Ausbreitung nicht hat hindern können. Die Zuversicht und Konzentration des Frühlings haben sich gewandelt in Enttäuschung und Ärger, in Unsicherheit, Hilflosigkeit, ja, zum Teil in tiefe Sorge und Angst. Unaufhaltsam befremdlich sickert die Erkenntnis ein, wie lebensgefährlich es für jeden werden kann.

Ich stehe auf den Stufen zum Hauptportal  der Lutherkirche und schaue dem gelben Blätterwirbelspiel zu. Hinter mir spüre ich die solide schwere Holztür, einen Spalt geöffnet. Wie um mir zu versichern, dass der bergende Kirchenraum mich jederzeit erwartet. Über der Tür weiß ich das steinerne Halbrelief mit fünf  Menschen und einen Buch. Gemeinsam lauschen sie auf Worte, die ihnen neue Gedanken schenken und die ihnen gut tun. Die beiden Kinder werden sie anders hören als der Mann und die Frau. Der Lehrer in der Mitte kennt sie länger, doch was sie sagen, entscheidet sich auch für ihn immer wieder neu. Diese fünf sind die vielen anderen, die weitererzählen, was in ihnen zum Klingen kommt. Worte, die Ruhe und Klarheit schenken, einen bergenden Herzens-Raum öffnen.

selbstgespräch einer seele

ach

bin so rastlos

warte

bis

der helfer

die lage beruhigt

Während ich noch über diese Kurzfassung von Psalm 42 nachdenke, laufen einige Kinder aus der nahen KiTa vorbei. Den Laubhaufen können sie nicht widerstehen und waten mit ihren Gummistiefeln mitten hindurch. „Gehörst du zur Kirche?“ rufen sie mir zu. „Ja! Schön, dass ihr auch hier seid!“. Ein kurzer Wortwechsel und so viel mehr. Einige Handvoll Blätter verteilen sich über unsere Mützen und Winterjacken. Es raschelt und wirbelt und tröstliche Freude weht über den Platz.

Beitrag von Pfarrerin Petra Rau