Du spürst die schlimme Verletzung. Sie hat geblutet und tut weh. Du solltest sie in Ruhe heilen lassen. Doch wie ein Kind spielst du daran herum. Du weißt, das verzögert die Heilung. Es kann eine Infektion oder eine Narbe entstehen. Dennoch kannst du deine Finger nicht von der Wunde lassen.
In der letzten Woche sind im öffentlichen Leben mindestens zwei Dinge geschehen, die dem Zusammenleben der Menschen tiefe Wunden geschlagen haben. Im Ur-Land der Demokratie wurde ein Mann zum Präsidenten, der die Demokratie mit Füßen tritt, willentlich und mit voller Absicht. In einem Park wurden zwei Menschen getötet und zahlreiche verletzt durch eine Person, die wohl nicht Herr ihrer Sinne war. Diese Woche mehrt das verstörende Gefühl, dass es jeden treffen kann und Sicherheit eine Illusion ist.
Wie heilt die Wunde, die durch Willkür und Gewalt geschlagen wird? Zweifellos verschlimmert sie sich eher, wenn ihre Ursache forciert wird. Zum Beispiel durch Hetzreden in ganz normalen Alltagsgesprächen, durch Vereinfachungen, Misstrauen und Beschönigungen - kurz, durch noch mehr Willkür und Gewalt.
Im Sommer 1944 schrieb Anne Frank in ihr Tagebuch: „Es ist ein Wunder, daß ich alle meine Hoffnungen noch nicht aufgegeben habe, denn sie erscheinen absurd und unerfüllbar. Doch ich halte daran fest, trotz allem, weil ich stets an das Gute im Menschen glaube.“ In ihrem Hinterhaus-Versteck wusste sie, dass ihre Familie und sie vom Tod bedroht waren. Dennoch hat sie ihre Hoffnung gehütet.
Vor 80 Jahren starb Anne Frank mit 15 Jahren im Vernichtungslager Ausschwitz infolge der Willkür und Gewalt der Nationalsozialisten. Ihrer und Millionen anderer Opfer des totalitären nationalsozialistischen Regimes wird am Montag, dem 27. Januar, in vielen Staaten Europas gedacht. Mit dem Gedenken geht einher die Aufgabe, Widerstand zu leisten, wo Menschenwürde und freiheitliches Zusammenleben bedroht sind.
Bei schlimmen Verletzungen wünschst du dir, es wäre nie so weit gekommen. Doch einmal geschlagene Wunden kannst du nicht ungeschehen machen. Du kannst nur dafür sorgen, dass sie heilen. Und bei den Wunden, die bleiben, kannst du lernen, damit zu leben. Indem das, was gut tut, eine Chance bekommt und wachsen darf. Außerdem kannst du viel dafür tun, dass keine weiteren Wunden geschlagen werden. Denn es ist deine Entscheidung, am Guten festzuhalten!